
Seit den tödlichen Schüssen, die Lorenz A. von hinten, unter anderem in den Rücken und Hinterkopf trafen, zeigen sich viele Menschen bestürzt über die polizeilichen Verhältnisse in Deutschland. Sie fragen sich, über den Tatort in Oldenburg hinaus, wie es nur so weit kommen konnte.
Ein Teil der Antwort darauf findet sich in der Analyse von Faktoren wie dem unerschütterlichen polizeilichen Korpsgeist, fehlenden Aufsichtsmechanismen, der stetigen Aufrüstung der Sicherheitsbehörden in Deutschland und ihrer Ausstattung mit immer mehr Kompetenzen. Polizeigewalt hat verschiedene Gründe: Rechtsextremismus in den Rängen von Beamt*innen, rassistische Denkweisen, toxische Männlichkeit, Verflechtungen mit dem Justizsystem oder weitere Aspekte, die es Polizist*innen einfach machen, unverhältnismäßig zu handeln – und im äußersten Fall Menschen zu töten. Obwohl sie das rechtlich betrachtet nicht dürfen: Polizist*innen dürfen nie die Intention haben, auf jemanden zu schießen, um ihn tödlich zu verletzen.
Für einen weiteren und wesentlichen Teil der Antwort auf die Frage, warum Polizist*innen ihre Macht missbrauchen, muss man herauszoomen und sich den gesellschaftlichen und diskursiven Rahmen anschauen, in dem die Polizei handelt.
Wenn es um Diskurs geht, fallen einem schnell die üblichen Verdächtigen ein: die AfD oder die CSU, oder Jens Spahn von der CDU, bekannt für seine Liebe zu „Law and Order“. Vielleicht auch Kai Wegner (CDU), Regierender Bürgermeister von Berlin, der sich gern bedingungslos an die Seite seiner Polizei stellt, genauso wie die scheidende SPD-Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Natürlich spielt das politische Personal eine Rolle, sogar die Hauptrolle, wenn es Gesetze ausarbeitet und den Ton setzt, wie die Polizei in Deutschland zu agieren hat. Ausschließlich die Berufspolitik zu betrachten, wäre allerdings zu simpel.
Die mächtigste Institution im Staat
Die Polizei ist eine Echokammer. Man ruft etwas hinein und bekommt etwas zurück. In diesem Fall: wie das Leben in unserer Gemeinschaft funktionieren soll. Die Polizei agiert zwar nach eigenen Regeln, nach einer gut erforschten Cop Culture, die vor allem die eigenen, polizeilichen Belange zentriert, aber sie reagiert auch auf externe Faktoren, auf gesellschaftspolitische Stimmungen zum Beispiel, auf einen Kulturwandel, egal in welche Richtung.
Wenn „die ganze Härte des Gesetzes“ und nicht dessen angemessene Anwendung von einer Mehrheit oder zumindest einer großen Gruppe in der Gesellschaft verlangt wird, dann stürmen Polizist*innen performativ Wohnungen, während Fernsehkameras laufen. Wenn „Illegale“ zum Sündenbock gemacht werden, wie manche das tun, dann packen Polizist*innen Schutzsuchende grob an ihren Körpern und schieben sie ab. Wenn das Recht des Stärkeren gelten soll, dann fühlen sich Polizist*innen im Recht, wenn sie ihre Potenz einsetzen: Waffen, Gewaltmonopol und Hegemonie machen sie zur mächtigsten Institution im Staat.
Andersherum würde das auch gelten. Wenn also viele in der Gesellschaft auf sozialen Zusammenhalt, Solidarität und Sicherheit für alle setzen würden, wäre es viel schwerer für Polizist*innen, unverhältnismäßig gewalttätig zu sein.
In der Realität wird die Polizei aber eher angestachelt. Das zeigt sich in unzähligen Online-Kommentaren, die nach dem Tod von Lorenz A. im Netz geteilt werden: Da schreibt eine Person: „Unser Land hat sich durch Zuwanderung stark verändert, zudem haben wir immer mehr gewaltbereite Menschen“, unter einem Instagram-Post, der über den Tod von Lorenz A. berichtet.
Die Verknüpfung des Falls in Oldenburg, der rein gar nichts mit Migration zu tun hat, mit der deutschen Migrationsdebatte, scheint absurd, aber symptomatisch zu sein. Sie soll exzessive Gewalt gegen „die Anderen“ rechtfertigen. Dass Lorenz A. in Oldenburg aufgewachsen ist, wird übergangen. Generell finden sich auf Tiktok, Instagram und anderen Plattformen sehr viele Kommentare, die entweder das Verhalten des Polizisten schönreden oder erklären wollen. Viele feiern aber auch ganz offen die Gewalt. Etwa der schlichte Kommentar „Danke an unsere Polizei“ taucht sehr oft auf.
Suche nach Sinn, auch dort, wo keiner ist.
Menschen suchen stets nach Sinn, auch dort, wo keiner ist. Und sinnvoll ist für viele Menschen, dass die Polizei, die ja für unsere Sicherheit zuständig ist, nicht einfach so tötet, sondern dass vorher etwas passiert sein muss, das den Tod eines Menschen rechtfertigt. Die Carte blanche für die Polizei auf der einen Seite, das Verlangen nach immer exzessiverer und zugleich gerechtfertigter Gewalt auf der anderen bilden die diskursive Basis für das Polizeiproblem.
Kompromissbereitschaft gegenüber den Gewalttätigen ist zudem auch in jene Räume eingezogen, in denen Entscheidungen getroffen werden: Chefredaktionen, Bildungsinstitutionen, Kulturbetriebe. Die Polizei wird hier oft reflexhaft verteidigt: polemisch, wer verlangt, dass man einen Menschen nicht hinterrücks erschießt; vernünftig, wer sich in jedem Fall für die Freunde und Helferinnen einsetzt. Vor allem viele Medien versuchen, eine Balance zu halten, alle zu Wort kommen zu lassen.
So landeten sofort nach den tödlichen Schüssen auf Lorenz A. Vertreter*innen von Polizeigewerkschaften vor den Kameras, Mikrofonen und Diktiergeräten. Sie konnten in einem frühen Stadium dieser Geschichte die Ereignisse deuten – im Sinne der beteiligten Polizist*innen. Dabei muss Journalismus vor allem die Realität abbilden, nicht im Sinne von „jeder ist mal dran und darf was sagen“, sondern gemäß der Leitlinie: Was ist konkret passiert? Wie ist das einzuordnen?
Wo die Toleranz der Gewalt oder das aktive Verlangen nach ihr hinführen kann, ist gut in den USA zu betrachten. Dort zertrümmern Polizist*innen Autofenster oder Türen und zerren Menschen heraus. Sie schreien „You’re under arrest!“ und richten ihre Waffen auf Körper. Anders als bei der ausgeschalteten Bodycam des Polizisten in Oldenburg laufen die Bodycams in den USA oft nonstop: Die Bilder laufen überall, Trumpist*innen jubeln, die Polizei liefert weiter. Es sind auch diese Bilder, die viele Unbeteiligte abstumpfen lassen, die viele ideologisch Gefestigte im rechten Spektrum bestärken, noch mehr Gewalt zu fordern. Sieht so die Zukunft in Deutschland aus?
Fünf Schüsse
In den sozialen Medien pochen viele darauf, Lorenz A. habe vor dem schießenden Polizisten ein Messer gezückt. Der Stand zu Redaktionsschluss: Lorenz A. hatte ein Messer in der Tasche, hat es aber wohl nicht gegen den Polizisten eingesetzt. Während er an den Beamten vorbeilief, habe er mit Reizgas gesprüht, sagte die Staatsanwaltschaft Oldenburg. Fünfmal soll ein Polizist in die Richtung von Lorenz A. geschossen haben. Mindestens dreimal traf er ihn. Ein vierter Schuss streifte den Oberschenkel.
Wer aber „Messer“ ruft, dem geht es nicht unbedingt um die Tatsachen. Das gezückte Messer dient manchen als Versuch, die tödlichen Schüsse aus der Polizeiwaffe aufzuwiegen. Im biblischen Sinne: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Man ruft diese Formel in die Echokammer hinein, von der Polizei kommt Entsprechendes zurück.
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