
Mark Carney hat den Ort für seine Pressekonferenz nicht zufällig gewählt. Der kanadische Premierminister steht auf der Dachterrasse eines Hotels in Niagra Falls, direkt an der Grenze zu den USA, im Hintergrund ist die amerikanische Seite der Niagarafälle zu sehen. „Wir befinden uns in der größten Krise unseres Lebens“, sagt Carney, während ihm der Wind durch die Haare fegt.
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Es sind stürmische Zeiten in Kanada, Annexionsdrohungen und die aggressive Zollpolitik von Donald Trump überschatten die Parlamentswahl an diesem Montag. Der US-Präsident gefährde die Existenzgrundlage von Millionen Kanadiern, betont Carney, „nicht weniger als die Zukunft Kanadas steht auf dem Spiel“. Seine Botschaft: Das Land brauche einen erfahrenen Krisenmanager, der Kanada gestärkt aus einer der turbulentesten Zeiten seiner Geschichte führen kann.
Dass Carney Erfahrung im Umgang mit Krisen hat, können ihm selbst politische Gegner nicht absprechen: Nach Stationen bei Goldman Sachs in London, Tokio, New York und Toronto sorgte Carney als Zentralbankchef durch schnelle und dauerhafte Zinssenkungen mit dafür, dass Kanada die Finanzkrise von 2008 vergleichsweise glimpflich überstand.
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Fünf Jahre später wurde er als erster Nicht-Staatsbürger an die Spitze der britischen Notenbank berufen, in dieser Position steuerte er das britische Finanzsystem durch die Turbulenzen nach dem Brexit-Referendum 2016.
„Kanadas Trump“ droht ein historischer Absturz
Lange schickte sich ein Trump-Klon an, nächster Premierminister von Kanada zu werden, mittlerweile kämpft Pierre Poilievre mit massivem Gegenwind. Platzt am Montag sein politischer Traum?
„Timing ist alles in der Politik“
Konservative wie liberale Regierungschefs boten Carney bereits in der Vergangenheit den Posten als Finanzminister an, den Sprung in die Politik wagte er aber erst jetzt: Als sich der 60-Jährige Anfang des Jahres um die Nachfolge von Justin Trudeau als liberaler Parteivorsitzender und kanadischer Premier bewarb, galt das als Himmelfahrtskommando.
Trudeaus bei Wählerinnen und Wählern massiv unbeliebte liberale Regierung war kurz zuvor zerbrochen, seine Partei lag in Umfragen mehr als 25 Prozentpunkte hinter den Konservativen um Pierre Poilievre, einem angriffslustigen Populisten, der mit seiner Inszenierung als „kanadischer Trump“ punktete.
Der Vorsitzende der Konservativen Partei Kanadas, Pierre Poilievre, spricht während einer Wahlkampfveranstaltung.
Quelle: Graham Hughes/The Canadian Press
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Doch dann zog ein Sturm aus dem Süden auf. Der neue US-Präsident überzog Kanada mit Strafzöllen, die die kanadische Wirtschaft in die Knie zu zwingen drohen, Trump liebäugelte offen damit, den Nachbarn als 51. Bundesstaat zu annektieren.
Im zweitgrößten Flächenstaat der Welt entfachte das einen ungeahnten Patriotismus, der Populist Poilievre mit seinen Trump-Anleihen war plötzlich nicht mehr gefragt, Carneys Liberale erreichten einen massiven Aufschwung in der Wählergunst.
„Timing ist alles in der Politik, und Carney hat die politische Bühne zu einem für ihn perfekten Zeitpunkt betreten“, sagt Daniel Béland, Politiksoziologe an der McGill University in Montreal. „Wäre Trump nicht im Weißen Haus, wäre es schwer vorstellbar, dass die Liberalen in diesem Wahlkampf die Favoriten wären, wenn man bedenkt, wie unbeliebt sie noch vor wenigen Monaten waren.“
Carney sucht die Nähe zu Europa
Nach der Ablösung Trudeaus im März schwor Carney sein Land auf eine Neuausrichtung der Beziehungen zu den USA ein. „Es ist offensichtlich, dass die Vereinigten Staaten kein verlässlicher Partner mehr sind. Die alte Beziehung, die wir zu den Vereinigten Staaten hatten, die auf einer immer tieferen Integration unserer Volkswirtschaften und enger sicherheitspolitischer und militärischer Kooperation beruhte, ist vorbei.“
Der Ex-Banker sucht stattdessen den Schulterschluss mit Europa und Asien, um die Handelsabhängigkeit von den USA zu verringern – nicht zufällig wählte er Frankreich als Ziel seiner ersten Auslandsreise.
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Auch Deutschland sei wichtig für Kanada
Es sei „für Kanada wichtiger denn je, seine Beziehungen zu unseren verlässlichen Verbündeten wie Frankreich zu stärken“, sagte Carney bei einem Auftritt mit Präsident Emmanuel Macron in Paris. „Wir wissen, dass wirtschaftliche Kooperation und nicht Konfrontationen uns ermöglicht, starke Wirtschaften aufzubauen.“
Auch Deutschland sieht Carney als wichtigen Partner, bei einem Gespräch mit dem geschäftsführenden Bundeskanzler Olaf Scholz vereinbarten beide, die vielfältigen Handelsbeziehungen weiter zu stärken.
Doch ganz ohne den Nachbarn im Süden geht es für Kanada nicht, das weiß auch Carney, die wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen beiden Nationen sind enorm. „Unser Fokus liegt auf dem Aufbau einer neuen Wirtschafts- und Sicherheitsbeziehung zu den USA“, sagt er bei seinem Wahlkampfauftritt vor den Niagarafällen. „Sie wird besser sein als jetzt, aber nicht wieder so wie vorher.“
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Carney strich die umstrittene CO₂-Abgabe
Innenpolitische Themen sind angesichts der Trump-Fokussierung in den Hintergrund gerückt: Direkt nach der Amtsübernahme strich der neue Premier die von seinem Vorgänger Trudeau eingeführte, umstrittene CO₂-Abgabe und nahm auch eine geplante Erhöhung der Kapitalertragssteuer zurück.
Carney verspricht außerdem eine grundlegende Reform der Wirtschaft mit Steuererleichterungen für die Mittelschicht und den Abbau bürokratischer Hürden sowie eine stärkere Förderung von Innovation und Investitionen.
Doch punkten, das weiß Carney, wird er kurz vor der Wahl vor allem als Krisenmanager, der Trump die Stirn bieten kann. „Ich habe fast mein ganzes Berufsleben lang mit Krisen zu tun gehabt“, sagt er in Niagra Falls. „Ich weiß nicht nur, was es braucht, um eine Krise zu überstehen, sondern auch, was es braucht, um gestärkt daraus hervorzugehen.“
Die Rechnung scheint aufzugehen: Seine Partei liegt in Umfragen inzwischen klar vorn, könnte sogar auf eine absolute Mehrheit der Sitze im kanadischen Unterhaus hoffen. So paradox es klingt: Carney und den Liberalen konnte nichts Besseres passieren als Trump.
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