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Lehrerin Frankes Kampf gegen die Schulschwänzer

„Tobi hat es heute wieder nicht aus dem Bett geschafft. Total depressiv“, sagt Ulrich Scholz. Brille, kurze braune Haare, Lehrer. „Ich weiß langsam nicht mehr weiter.“ Schulleiterin Andrea Franke schaut ihn besorgt an. In einer Hand das Milchpulver, in der anderen die Kaffeebohnen, die sie gerade in den halb leeren Behälter im Lehrerzimmer schüttet.

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Fälle wie den von Tobi, der eigentlich anders heißt, gibt es viele an der Willy-Brandt-Teamschule (WBT), einer Integrierten Sekundarschule in Berlin-Wedding. Kinder und Jugendliche, die wegen psychischer Probleme nicht zur Schule kommen. Oder aus Angst. Oder weil sie zu Hause Stress haben. Oder weil sie einfach keine Lust haben.

Vielerorts hat die Anzahl der Schulschwänzer Rekordstände erreicht. Zentral werden solche Zahlen nicht erfasst, aber Schlagzeilen dazu findet man quer durch die Republik. Brandenburg meldet für 9.300 Schüler häufige, unentschuldigte Fehlzeiten. Davor waren es rund 7.800 Fälle. Auch in Thüringen steigen die Abwesenheitstage seit 2015 (3,5 Prozent) kontinuierlich an. Aktuell liegen sie bei 7 Prozent. Oft sind die Fehlzeiten jedoch mit bis zu 5 Tagen relativ kurz. Auch in Städten wie Hannover lässt sich seit einigen Jahren ein Trend nach oben beobachten.

Steigende Schulabbrecherquote

Einige Länder gehen mit hohen Bußgeldern von bis zu 1000 Euro gegen die Abstinenzler vor. Und wenn das nicht reicht, droht sogar das Jugendgefängnis: Jährlich werden bundesweit Hunderte schulpflichtige Jugendliche unter Arrest gestellt, weil sie nicht in den Unterricht kommen.

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Gründe fürs Fernbleiben gibt es viele. Nicht alle Länder, Städte und Kommunen erfassen Fehltage, zudem sind Kinder mit zwei unentschuldigten Fehltagen noch keine notorischen Schulschwänzer – manche vergessen schlicht und einfach, einen Elternbrief vorzulegen. Die Zahlen müssen also mit Vorsicht interpretiert werden.

Klar ist hingegen, dass Schulschwänzen oft ein Warnzeichen ist. Ein Schau-mal-genauer-hin-Signal. Und es ist das deutlichste Symptom eines folgenden Schulabbruchs. In ganz Deutschland ist diese Quote laut nationalem Bildungsbericht 2024 zuletzt wieder gestiegen und liegt nun bei 6,9 Prozent.

Mehr Belastung geht nicht

Nicht so an der Schule von Andrea Franke in Berlin-Wedding. Die 52-Jährige halbierte die Zahl der Schwänzenden von 9 Prozent (2015) auf 4,2 Prozent (2024). Die Quote derer, die die Schule ohne Abschluss verließen, sank sogar noch deutlicher von 12,1 Prozent (2018/2019) auf 3,2 Prozent (2023/2024). Und all das, obwohl die Einrichtung als Brennpunktschule gilt, hohe Kinderarmut, hohe Erwerbslosigkeit bei den Eltern. In der Berliner Typisierung heißt das: „Belastungsstufe 7″. Es ist die höchste, die es gibt. Nur drei Prozent aller öffentlich-allgemeinbildenden Schulen haben ebenfalls diese Einstufung. Sie haben auch mehr Anspruch auf Förderung.

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Trotz Belastung ist die Schule beliebt wie nie: 130 neue Kinder wurden für das kommende Schuljahr von ihren Eltern angemeldet. Damit ist die Kapazitätsgrenze erreicht. Bevor Andrea Franke die Schule übernahm, waren es gerade einmal 30 Kinder. Der Rest waren Kinder, die nirgends angemeldet waren. Wie hat sie das geschafft?

Fragt man sie, spricht sie von einem „tollen Team“, von vertrauensvollen Beziehungen im Kollegium, zu der Schülerschaft, den Eltern und einer Willkommenskultur. Eigentlich hat sie aber ein scheinbar einfaches Mittel gegen Schulschwänzen gefunden: Sie hat die Schule in einen Ort verwandelt, an dem viele Schüler gern sind. Eine Leistung, für die ihr am heutigen Montag der Deutsche Lehrkräftepreis verliehen wird, Kategorie: vorbildliche Schulleitung.

Fehlt im Unterricht: Die Zahl der Schulschwänzer steigt (Symbolbild).

Fehlt im Unterricht: Die Zahl der Schulschwänzer steigt (Symbolbild).

Der wohl entscheidende Impuls für den Erfolg: ein Kreativteam, das den Ist-Zustand analysierte und Maßnahmen überlegte. Die Schule beginnt seither erst um 8.30 Uhr, Schulstunden mit 60 statt 90 Minuten, eine Deutsch- und Mathestunde mehr und getrennte Pausen. Eine für die Sechst- und Siebtklässler, eine für Acht- und Neuntklässler. Das Team gestaltete das „verstaubte” Lehrerzimmer um und kreierte eine „Lehrerlounge“ mit Liegen, festen Arbeitsplätzen samt Lärmschutz und Moos an den Wänden – auch das Lehrpersonal muss sich wohlfühlen.

Strukturen schaffen, die wirklich passen

„Wir nahmen alles hoch, schüttelten einmal kräftig und, was herunterfiel, machten wir neu“, sagt Franke. Und zwar so, dass es zu den Bedürfnissen und Gegebenheiten passte. Wenn der Schulhof zu klein ist, mach zwei Gruppen. Wenn die Kinder keine 90 Minuten durchhalten, verkürze die Stunden. Pragmatisch und unaufgeregt.

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Wir nahmen alles hoch, schüttelten einmal kräftig und, was herunterfiel, machten wir neu.

Andrea Franke,

Schulleiterin

„Ich bin kein Mensch, der sich gern auf dem Bauchgefühl ausruht. Ich möchte Zahlen haben, denn daran kann ich Erfolg messen“, sagt Franke. So hat sie neue Strukturen geschaffen, die besser zu der Schule, den Lehrkräften und dem Kollegium passen. Eine wöchentliche Fachleiterrunde, regelmäßige Fallbesprechungen mit Schulpsychologen, Sonderpädagogen, Jahrgangsleitern und Schulsozialarbeitern, enge Zusammenarbeit mit der IHK, Kooperation mit der Luisenbad Bibliothek. „Manche Kinder gehen nach Hause und wohnen mit sieben Familienmitgliedern in einer Zweizimmerwohnung. Wo sollen sie da ein ruhiges Plätzchen finden?“, fragt Franke. „In der Bibliothek können sie Bücher ausleihen, einen ruhigen Platz zum Lernen finden und lernen auch neue Orte kennen.“

Positiver Kontakt zu Eltern

Vieles, was in der Schule umgesetzt wurde, musste nicht eigens geschaffen werden – etwa Schulversäumnisanzeigen zu schreiben, wenn Kinder mehr als fünf Tage oder 25 Stunden unentschuldigt fehlen. Diese Anzeigen gehen direkt ans Schul- und Jugendamt. In einem Schuljahr kamen sie so auf 500 – ein Höchststand. Aber als die Kinder und Jugendlichen merkten, wie konsequent die Schule agierte, nahmen die Fehlzeiten plötzlich ab. „Es gibt so viele Dinge, die wir gar nicht neu erfinden müssen”, sagt Franke. „Wir müssen nur das, was da ist, auch umsetzen.“

Das Hamburger Forschungsprojekt „Jeder Schultag zählt“ hat Absentismus untersucht und wirksame Strategien dagegen benannt. Darunter eine klare Datenlage zur Abwesenheit, verlässliche und unmittelbare Reaktion der Schule, gutes Schulklima und positive Beziehungen. An der WBT gibt es viele solcher Maßnahmen. Bei jedem Kind, das sich anmeldet, gibt es ein Erstgespräch mit den Eltern. „Der Erstkontakt“, sagt Andrea Franke, „muss positiv sein.“ Der zweite Kontakt auch.

Bei vielen Eltern in Problemvierteln herrscht Skepsis und Ablehnung gegenüber der Institution Schule. „Sie erwarten, wenn die Schule anruft, dass es etwas Schlechtes ist“, sagt Franke. Also rufen Frau Franke und ihre Kollegen und Kolleginnen die Eltern auch mal an, wenn es nur Gutes zu berichten gibt. „Die meisten Eltern rechnen gar nicht damit, dass ihr Kind Erfolge in der Schule haben kann“, sagt Franke. „Es geht uns auch nicht darum zu schauen, was das Kind alles nicht kann. Wir wollen Möglichkeiten aufzeigen, was es schaffen könnte – wenn wir es alle unterstützen.“

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Bloß kein Stillstand

Die Arbeit ist sicherlich herausfordernd, doch Franke lässt sich so schnell abschrecken. Nicht von Eltern, die von der Schule per se Schlechtes erwarten. Nicht von Kolleginnen und Kollegen, die Veränderungen zunächst skeptisch beäugten oder gar ablehnten. Nicht von einem Schulgebäude, dessen Mensa eigentlich zu klein für die 675 Schüler ist. Und nicht von Jugendlichen, die von Haus aus zu wenig Ressourcen für einen guten Bildungsstart mitbringen.

Bloß kein Stillstand. „Unsere Schüler und unsere Gesellschaft entwickeln sich auch kontinuierlich weiter“, sagt die Schulleiterin. „Wir dürfen als das System, in dem sich diese Menschen bewegen, nicht stillstehen.“ Als sie vor dem WBT am Gymnasium unterrichtet hatte, langweilte sie sich schnell. „Nettes Kollegium, nette Schülerschaft – aber die brauchten mich nicht“, sagt sie. „Ich hatte Lust auf Verantwortung.“ Ein „Wirbelwind“ sei sie schon immer gewesen, ein „unruhiger Geist“. Das sagen auch Kollegen, wenn man sie fragt.

Wir wollen Möglichkeiten aufzeigen, was das Kind schaffen könnte – wenn wir es alle unterstützen.

Andrea Franke,

Schulleiterin

Nicht immer sei das gut angekommen. Andrea Franke musste erst lernen, ihr ganzes Team bei ihren Ideen mitzunehmen. „Ich bin losgerannt und habe mich gefragt, warum rennt denn keiner hinterher“, sagt sie. Manche Maßnahmen werden auch wieder gekippt. Wie das Einsammeln der Handys am Anfang des Schultags. „Viele Lehrkräfte fühlten sich damit überfordert“, sagt die Pädagogin. Es habe eine „Spaltung des Kollegiums“ gegeben. Letztlich wurde die Maßnahme in einer Gesamtkonferenz mit einer Stimme Unterschied abgeschafft. „Zu scheitern ist nicht schlimm, aber wir müssen daraus lernen.“

Ein Modell für Deutschland?

Für den Erfolg der Schule ist Imagepflege wichtig – nach innen und nach außen. Es gibt Feste, auch fürs Kollegium, zu einer schulinternen Karrieremesse kommen 50 Unternehmen. Darunter BASF und die Deutsche Bahn. „Das ist natürlich Aufwand“, sagt Franke. „Aber all das führt dazu, dass unsere Schule in einem anderen Licht dasteht.“ Auch für die Schüler. „Sie sehen, dass die Schule ein Ort des Zusammenkommens ist – nicht nur des Lernens.“

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Ob Elterngespräche, umgebaute Lehrerzimmer und modifizierte Stundenpläne – wirklich entscheidend für den Erfolg sei die Haltung, die hinter all dem steht – davon ist Franke überzeugt. Denn sie wolle die Mitte stärken, nicht die Eliten. Das ist angesichts der Berliner Schulpolitik nötiger denn je. Denn wer nach der sechsjährigen Grundschule keinen Notenschnitt von mindestens 2,2 hat, bekommt keine Gymnasialempfehlung mehr. Den Probeunterricht – der Test fürs Gymnasium – bestand weniger als 5 Prozent. Die Oberschulen dürften künftig also noch mehr Zulauf bekommen und dementsprechend wichtiger werden.

Ist der Wedding nun also ein Modell für Deutschland, um die Schulschwänzerei und manch anderes Problem in den Griff zu bekommen? Wohl nicht unbedingt. Auch, weil vieles am Engagement der Schulleiterin hängt. Sie sei ein „Workaholic“, arbeite wirklich gern, sagt sie. Nicht jeder, nicht jede kann oder möchte das leisten.

Tatsächlich gibt es viele Wege, eine Schule so zu gestalten, dass Kinder gern dort hingehen. Aber von der Haltung, auf Möglichkeiten statt auf die Defizite zu schauen, Ziele mess- und bewertbar zu machen und auf Team statt auf Einzelkampf zu setzen, kann sicher jede Schule profitieren.

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