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Spielfilm „Toxic“: Wo Kraftwerke noch Fortschritt versprechen

Dass sich Heidi Klum in den litauischen Film „Toxic“ verirrt, erscheint eher unwahrscheinlich, zum Glück. Ansonsten könnte die Dompteurin des Model-Nachwuchses noch auf Ideen für die nächste „Supermodel“-Staffel kommen und ihre ebenso unbedarften wie hoffnungsvollen Modelanwärterinnen mit der Realität von Saulė Bliuvaitės Regiedebüt konfrontieren.

Wobei sich im Laufe der harschen 100 Minuten von „Toxic“ immer wieder die Frage stellt, ob das Gezeigte tatsächlich die Realität des ländlichen Litauens darstellt oder nicht doch eher eine betont miserabilistische Version der Welt, die vor allem darauf abzielt, auf westlichen Filmfestivals als besonders authentisch wahrgenommen zu werden. Das zumindest hat gut geklappt, vergangenes Jahr wurde „Toxic“ beim Filmfestival in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnet, einer der wichtigsten Auszeichnungen im internationalen Festivalbetrieb.

Die Welt, die Bliuvaitė zeigt, könnte kaum heruntergekommener sein. Irgendwo im Hinterland Litauens spielt der Film, fernab der Hauptstadt Vilnius, in einer Region, in der die EU-Subventionen noch nicht angekommen oder versickert sind, wo die Straßen nicht asphaltiert sind, sondern staubig, so als wäre man im Wilden Westen. Container stehen herum und bilden einen improvisierten Markt, auf dem wohl nicht nur legale Dinger verschachert werden.

Wer hier aufwächst, will raus, allzu viele Möglichkeiten gibt es allerdings nicht. Was bleibt, ist dementsprechend oft das Aussehen und damit der Einstieg in das harte Geschäft mit dem schönen Schein. Klassisch hübsch sieht Kristina (Ieva Rupeikaitė) aus, eine 13-Jährige, die selbstbewusst auftritt und auf der Schule im Mittelpunkt zu stehen scheint, aber das wirkt nur so. Allein mit dem Vater wächst sie auf, in einer winzigen Bude, aus der sie der Vater regelmäßig rausschmeißt, ihr ein paar Scheine in die Hand drückt, damit er sich mit seinen wechselnden Freundinnen vergnügen kann.

Der Film

„Toxic“. Regie: Saulė Bliuvaitė. Mit Ieva Rupeikaitė, Vesta Matulytė u. a. Litauen 2024, 99 Min. Kinostart: 24. April 2025.

Im unbarmherzigen Beliebtheitswettbewerb an der Schule steht Kristina weit oben, dementsprechend hat sie es, wie alle anderen auch, auf eine neue Mitschülerin abgesehen: Marija (Vesta Matulytė), die von ihrer Mutter quasi bei der im Ort lebenden Großmutter abgestellt wurde, die selbst irgendwo ihr Glück sucht. Marija humpelt wegen einer angeborenen Behinderung, ist zudem groß, schlaksig und etwas unbeholfen und dementsprechend beliebtes Mobbing-Opfer in der Schule.

Karriere im Glamourbusiness

Unfreiwillige Freundinnen werden die beiden Mädchen bald, verbunden von dem Gedanken, auszubrechen. Einen Ausweg verheißt eine kleine, lokale Modelagentur, betrieben von der überdeutlich zwielichtig wirkenden Romas (Eglė Gabrėnaitė). Für viel Geld verspricht sie den jungen Mädchen des Dorfes und oft auch deren Eltern eine Chance auf eine Karriere im Glamourbusiness, die sich – selbstverständlich – nur selten, wenn überhaupt, ergibt.

Was die Mädchen nun tun, um ihre Chance zu ergreifen, schildert Saulė Bliuvaitė mit aller Härte: Rauchen, um keinen Hunger zu entwickeln, zählt da ebenso wie Erbrechen nach dem Essen noch zu den harmlosen Dingen. Mit verschluckten Wattebäuschen den Hunger stopfen, funktioniert nur bedingt, viel besser dagegen der Bandwurm, den Kristina im Internet bestellt und mit dem sie nicht nur ihr Hungergefühl abtötet.

Schonungslos zeigt Bliuvaitė den immer verzweifelteren Versuch der Mädchen, einem Schönheitsideal zu entsprechen, dessen Ursprünge nicht explizit genannt werden müssen: Poster westlicher Schauspielerinnen zieren die Wände, Britney Spears’ Song „Toxic“ dient nicht umsonst als Filmtitel, doch der versprochene Glamour bleibt reine Oberfläche.

Windige Arbeitsangebot

Was in gewisser Weise auch für den Film selbst gilt, der sich auf inhaltlicher Ebene nicht durch Originalität auszeichnet, stattdessen arg bekannte Muster osteuropäischen Miserabilismus variiert, inklusive geifernder älterer Männer, die den Minderjährigen hinterhersabbern, aber auch windige Arbeitsangebote, vorgebliche „Massagen“, deren wahre Natur nicht explizit gezeigt, aber unmissverständlich angedeutet wird.

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Ganz andere Qualitäten beweist Saulė Bliuvaitė dagegen auf der formalen Ebene, wo in Zusammenarbeit mit dem Kameramann Vytautas Katkus Bilder gelingen, die sie als bemerkenswertes Talent ausweisen. Im klassischen, fast quadratischen 4:3-Format wurde gedreht, in gestochen scharfen, satten Digitalbildern, voller bemerkenswerter Einstellungen.

Egal ob in den engen Wohnungen, in denen die Tapeten wohl seit dem Untergang des kommunistischen Systems nicht gewechselt wurden, oder in den Industrielandschaften, in denen Kraftwerke, Autobahnen und Hochspannungsleitungen Fortschritt suggerieren: Die markanten Bildkompositionen verleihen „Toxic“ eine ästhetische, elegische Note, die am Ende doch über die oft allzu konventionelle, sich etwas sehr dem Elend verschriebene Handlung hinwegsehen lässt.

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